10.4.-16.4.

La Paz

Gondeln, Lamaföten und Flohbisse

Eindrücke einer Mega-Stadt aus Udos Sicht:

Eine Ankunft:

Wie immer ist ein Flug, auch der nach La Paz, mit Aufregung und etwas Angst verbunden. Der Anflug war jedoch atemberaubend und man konnte den unter uns liegenden Trubel der Millionenstadt schon erahnen. Wie Geschwüre krochen die einzelnen Stadtteile über die umliegenden Hügel hinaus in die Anden. Die Maschine landet schließlich im über 4.070 Meter hoch liegendem Stadtteil El Alto. Ein vergleichsweise riesiger Flughafen mit unzähligen parkenden Maschinen empfängt uns und nach gefühlt 15-minütiger Rollerei erreichten wir unsere Parkposition. Wir sind gespannt auf einen der höchstgelegenen  Flughäfen der Erde. In wenigen Minuten ziehen wir unsere Rucksäcke vom Rollband; alles läuft perfekt und ohne Hektik ab. Sollte das die vielbeschriebene südamerikanische Unzuverlässigkeit sein, das Chaos, der Anschiss, der überall lauert? 


Am Salida wird durch zwei Sicherheitspersonen festgestellt, ob auch die Rucksäcke zu uns gehören, ob sie nicht durch Unberechtigte entführt werden. Wie oft hatte ich mich in Deutschland aufgeregt, daß man einfach mit irgendeinem Gepäckstück das Flughafengelände verlassen kann. Niemand interessiert sich in der Heimat für diesen Umstand. Und die Vergleiche sollen anhalten. Was ist eigentlich in Schönefeld seit über 10 Jahren los? Was sind das für komische Probleme mit einer „Brandlöschanlage“ ; weshalb versagen deutsche Ingenieure bei Planung und Ausführung eines Gesellenstückes wie der Entlüftungsanlage? El Alto, in nur 38 Monaten zum bedeutsamen Luftdrehkreuz Südamerikas ausgebaut, sollte für die deutschen Versager zur Pflichtexkursion werden. Die Welt lacht uns seit Jahren für das zur Bundespolitik erhobene „Verkehrsprojekt“ aus....


Rasch ein Taxi gerufen, den Preis verhandelt (so wie ich es in Deutschland seit Jahren vergeblich probiere) und ab in das zweitausend Meter tieferliegende geordnete Chaos der Zweimillionenstadt. Dabei entfallen jeweils eine Million auf El Alto und auf das eigentliche La Paz. Nach wenigen Kilometern erblicken wir das gigantische Häusermeer in den weiten, schüsselartigen Andentälern. Eine halbe Stunde geht es nur bergab. Dann wird der Verkehr dichter, der Gestank aus filterlosen Abgasrohren beraubt uns erbarmungslos zusätzlich zur dünnen Luft des Sauerstoffs. Sitzend und wartend in ihren dicht aufgereihten Autos, meist asiatischer Produktion, mit knisternden Motoren, befinden sich zeitgleich zehntausende Menschen – auch wir. Rings um das vermeintliche Zentrum im Umkreis von etwa 10 Kilometern ahnen wir schon, es kann dauern bis wir unser Hostal erreichen…


DOCH: Er bewegt sich – der Verkehr. Es gibt kein rechts vor links, nur wenig Blinker, Zebrastreifen, die niemanden interessieren, rote Ampeln, die selbstverständlich überfahren werden müssen, sternförmig angeordnete Fahrzeuge, deren Schnauzen sich fast auf der Kreuzungsmitte berühren. 


Und es gibt die wichtigsten Fahrzeugteile überhaupt: 

Hupen, Hörner, Fanfaren und laute Hälse aus geöffneten Fenstern. 

Was es nirgends gibt: 

UNFÄLLE. 

Entspannt erreichen wir nach einer Stunde unsere Bleibe und drücken dem Fahrer die ausgehandelten Bollis in die Hand. Zum tausendsten Male höre ich „equipaje grande, pesada mucho“. 

Wir sind mittendrin, in La Paz!

Dagegen erfordert das Frühstück wirklich einen sehr hungrigen Magen, um die dargebotenen „Nahrungsmittel“ hinunterzuwürgen. 

Frühstück in Bolivien ist in der Regel scheisse – auch in unserem Falls bestätigte sich dieses erneut. Vielleicht hätte der Hostelname „York-Vintage“ uns aufhorchen lassen müssen. 


Nunja, es gibt ja Suppenküchen. Erst mit Einbruch der Dunkelheit und nach zehn Stunden Nervosität entdecken wir eine Frischfischküche – hier rein und zwei Trutcha sowie mehrere Carachis verdrückt, beides superlecker. 

Gekocht wird auf den Strassen bis spät in die Nacht. Im übrigen scheint die Stadt nie zu schlafen, vielleicht von 3-4, eher weniger. Das gesamte Leben spielt sich auf der Straße ab, einfach alles wird draußen erledigt. Soviel Trubel gefällt uns. 

Die Viertel und die Straßen scheinen nach Gewerben aufgeteilt. So gibt es Reifenstraßen, Ölwechselstraßen, Versicherungsstraßen, Plastegefäßstraßen, Gemüsestraßen, Waschmaschinenstraßen oder auch die Straße der Seilmacher oder Bettenbauer. Unser Hostal befindet dich in der Straße der Frisöre… Jedermann, der irgendetwas benötigt weiß, wo er hin muß und kann auf kurzem Wege direkt die Angebote vergleichen. Entgegen der allgemeinen Informationen von „klugen und aktuellen“ Reiseführern oder Internetblogs sind die Preise kaum oder nur mit energischem Nachdruck verhandelbar. Dies gelingt uns wiederholt bei einigen Touranbietern. 


Garküchen - Essen für Arme Leute, und für uns...

Wie gesagt, La Paz lebt. 

Nachts sind Hunderttausende auf den Beinen, essen, beten, kaufen, verkaufen oder spielen Karten. Traditionell gekleidete Frauen mit Melonen auf der Zopffrisur, die schon 15 Stunden Verkaufsgespräche hinter sich haben, werden irgendwann doch müde und schlafen bei 5°C unter einer alten Decke oder gleich neben geschlachteten Hühnern oder Rinderhüften. 


Auf dem sogenannten Hexenmarkt direkt neben unserem Hostel gibt es alles gegen die täglichen Wehwehchen. Und auch zur Vorsorge können Mittelchen von Mutter Natur gekauft werden, z.b. Kokablätter. Und es gibt auch “Kompaktpakete“, bestehend aus Kräutern, Seifen, selbstgebackenen Keksen gegen alle möglichen Krankheiten, Schnaps für Pacha Mama (gute Ernte, kein Erdbeben, viel Sonne und Regen...) und getrockneten Lamaföten, die man dort einbuddeln muss, wo das eigene Häuschen/Hüttchen stehen soll, damit immer Glück und wenig Streit im Häuschen/Hüttchen sein wird 😬

Eignet sich wunderbar als Einweihungsgeschenk für Freunde...

Am nächsten Tag besteigen wir die hypermoderne, blitzeblanke Seilbahn, die schon heute viele Stadtteile verbindet. Sie ist ein Meisterstück des österreichischen Seilbahnspezis Doppelmayr, der allerdings nur bei akribischer Suche nach einem Typenschild als Errichter entlarvt werden kann. Stattdessen wird das imposante Bauwerk als bolivianische Regierungsleistung gefeiert. Auf Plakaten ist Presidente Evo Morales einfach alles – Kinderarzt, Campesino, Wasserbauingenieur – auch Seilbahnoberbefehlshaber. 

Irgendwie werden Erinnerungen wach…


Das heutige Netz umfasst etwa 12 km Länge, im Einsatz sind etwa 450 Gondeln, die den Passagieren alle 30 Sekunden zur Verfügung stehen. Man hat quasi halbminütlich Anschluss. Für 2019 ist die Fertigstellung prognostiziert, dann werden mit über 30 Kilometer Streckenlänge alle Stadtteile erschlossen sein. Das Band wird sicher einige Monate früher zerschnitten werden… 


Die Reise über La Paz ist gigantisch, spektakulär. Mitunter erscheinen die Autos klein wie Ameisen, dann wiederum geht es über Hinterhöfe mit Wäschereien und freilaufenden Haustieren hinweg, vorbei an Schlafzimmern oder besetzten Schreibtischen. Von den Beobachteten nimmt offenbar keiner mehr die Blicke der Vorbeireisenden wahr. Selbst bei der Diagonalfahrt über ein Fussballstadion schaut keiner der Spieler nach oben zu den Gondeln – warum auch?! Für uns ist das Ausprobieren der Linien ein echtes Abenteuer, ein Highlight, lernten wir doch sämtliche Bereiche des städtischen Lebens von oben kennen. Neben den vielen kleinen Dreckecken und doch auch verbreiteten Arme-Menschen-Siedlungen fielen uns die extrem opulenten Villen auf einigen Hügeln und die sichtbaren Investitionen der Reichen auf. Nicht alle Dinerosbollis dürften hier aus legalen Geschäften stammen. 


Wir haben von La Paz einen überraschend positiven Eindruck und fühlen uns in der Millionenstadt unerwartet recht wohl, abgesehen von den Flohbissen, die sich Ulrike im kuscheligen Hostelbett eingefangen hat, und zwar in Vielzahl. Die jucken wie die Pest und sind nur mit Antihistaminikum zu bekämpfen. Die Arme, hässlich sieht's aus...


Bezüglich Abgasfilterung herrscht hier erst Aufbruchstimmung, weshalb wir Evo ein neues Prestigeobjekt vorschlagen werden. Müll existiert (im Gegensatz zu den ländlichen Regionen) relativ wenig und wenn, dann wird er alsbald beseitigt – und das beeindruckend, mit einer vom Müllwagen laut in die Gassen übertragenen klassischen Musik. Jedem signalisiert die Musik, schnell noch dem Müllmann die Reste zu überreichen. Auch ein Neuerervorschlag, welchen wir allerdings der Heimat übergeben werden. 😉



Mit dem bike auf den

CAMINO DE LA MUERTE

Östlich von La Paz befindet sich die Hauptverbindungsstraße zwischen der bolivianischen Hauptstadt und dem nordöstlichen Tiefland. Diese führt über einen 5000 m hohen Pass (trockenes Hochland) und dann ca. 65 km hinunter bis in die sogenannten Yungas, das tropische Tiefland. 

Diese Straße ist ca. 10 km asphaltiert und reduziert sich dann auf einen schmalen unbefestigten Sandweg, der eigentlich zu 80% ein Matschweg ist, weil 4 von 5 Klimazonen, die durchfahren werden, nass sind:  immerfeuchtes Nebelgebirge, Bergnebelwald (Nebel = Niesel), Farnregenwald, tropischer Regenwald. Hinzu kommt, dass die Straße in eine 1000m hohe Wand geschlagen wurde, so dass oberhalb wie unterhalb der Straße 500m hohe, mit Moos bewachsene feuchte Wände aufragen bzw. abfallen. Durch die ständige Feuchtigkeit oder herabstürzende Wasserfälle wird auch immer mal wieder ein Teil der Straße weggespült oder bricht ab, so dass sie an manchen Stellen gerade mal so breit wie ein PKW ist. 


In den vergangenen Jahrzehnten kam es fast täglich zu Unfällen in Form von Abstürzen, vor allem dann, wenn zwei entgegen kommende Autos sich aneinander vorbeizwängen mussten oder ein Auto mit den Hinterreifen wegrutschte und den Halt verlor. Die Straße wurde als gefährlichste Straße Südamerikas eingestuft und Ende der 90er Jahre für den Verkehr gesperrt.


Heute ist der “camino de la muerte“ (Todesstraße) eine touristische Adrenalin-Attraktion und kann mit dem Rad im Rahmen einer geführten Gruppentour in ca. 4 Stunden bergab gefahren werden. Dieser Nervenkitzel stand seit Beginn meiner Reiseplanung ganz oben auf der todo-Liste, Udo zu überreden war ein Leichtes.


Am 12.4. ist es soweit, ich konnte die Nacht vorher vor kaum schlafen vor Aufregung und Nervenkitzel. Gemeinsam mit 6 anderen, viel Jüngeren, werden wir mit dem Van und den Fahrrädern morgens um 10 Uhr auf den Pass gefahren. Allein die Tour vom Zentrum La Paz bis zum Stadtrand dauert 1,5 Stunden und geht nur bergauf. Endlich raus aus dem Stadtgewimmel und wir schrauben uns auf 5000 Höhenmeter. Dort ist der Ausgangspunkt der Tour: 

Einweisung auf Spanisch, Fahrräder einstellen, Schutzausrüstung anziehen, Startfoto, und los gehts, bei gutem Wetter aber ziemlicher Kälte, zur ersten Etappe: 25 km Asphaltsraße hinunter, vorbei an malerischen Hängen und schneebedeckten Gipfeln.


Udo und all die anderen rollen mit Speed an mir vorbei. Ich brauche 10 km, um mich an die Geschwindigkeit zu gewöhnen, dann werde ich entspannter und kann die Landschaft um mich herum genießen. Aber Vorsicht, es kann jederzeit ein Huckel oder kleines Schlagloch kommen, also höchste Konzentration und immer schön den Lenker festhalten!

Und dann heißt es: Abbiegen von der neuen Verbindungsstraße auf die alte Straße, hier beginnt der camino de la muerte! Wir haben bereits 500 Höhenmeter überwunden und schon wird es neblig und feucht. Die Brille beschlägt und die Abfahrt ist ein einziges Gerumpel. Die Räder sind gut gefedert und die Reifen dick , um den Steinen und dem Matsch standzuhalten. Aber man muss trotzdem höllisch aufpassen, dass man nicht ausrutscht und, vor allem, die Geschwindigkeit drosselt. Heißt: Handbremse permanent gezogen und Fingerkrämpfe weghecheln. Und bloß nicht zu nah an den Abgrund, sonst ist's vorbei. 


Trotz all der Anstrengung und der Nässe um einen herum, die Abfahrt ist fantastisch. Allein der Gedanke, dass dies die gefährlichste Straße der Welt ist/war, dazu noch der Geruch von Wald, Regen und Pflanzen, der Blick in den bodenlosen Abgrund, die Wasserfälle, die wir durchfahren...


Udo meint, dass ihm die Straße weniger gefährlich erscheint, was sich darin äußert, dass er einige Kilometer vorne wegfährt, ab und zu mal auf mich wartet, ein Foto macht und dann wieder davonjagt. Der Nebel stört ihn, nicht wegen der Nässe, nein, vielmehr wollte er unbedingt einige der verunglückten Fahrzeuge tief in den Schluchten sehen. Zeugnis davon geben “lediglich“ unzählige Kreuze am Wegesrand, die den Opfern einen Namen geben. Gezählt hat sie niemand, doch es müssen viele Hunderte sein. Während der Abfahrt wird uns dies nur kurzzeitig, an besonders engen und steilen Passagen, bewusst. Udo hält ein paarmal inne und schaut hinab in die tiefen grünen Schluchten. Später meint er, wie viel Leid müssen all die hinterbliebenen Familien ertragen haben. Für sie war es der lebenswichtige Broterwerb, dass ihre Lieben in desolaten Fahrzeugen hier herauf und über den Pass fuhren. Heute radeln zumeist junge Menschen in bunten Anzügen hier bergab. Wir glauben, dass den Meisten von ihnen die blutige Geschichte dieser Straße nicht wirklich nahe geht.


So geht es also ca. 3 Stunden, mit kurzen Stopps, Snacks und Fingergymnastik. Je weiter wir hinunter kommen, desto wärmer wird es. Die Pflanzenwelt verändert sich, es wird zunehmend bunter. Die Vorboten des tropischen Tieflandes begrüßen uns: 27 Grad, Schmetterlinge und bunte Vögel. Die letzte Etappe bedeutet nochmal eine Flussdurchquerung (ohne Absteigen, sonst Füße nass) und dann ist es geschafft! 


Leider führt die Fahrt nicht bis ganz hinab ins Tiefland, so dass uns die Yungas und der Urwald verwehrt bleiben, sondern endet auf einer Höhe von 1000m in einem Dorf, in dem sich all die stolzen Biker Bier trinkend und selfies machend feiern.


Trotz des etwas enttäuschenden Abschlusses lassen wir uns letztlich auch zu einem Gruppenbild hinreißen und stoßen an:

We are the survivers of the death road 😉
We are the survivers of the death road 😉


Wir haben überlebt 👍

Wir sind nicht ein einziges Mal gestürzt 👍

Unsere Finger sind noch dran 👍

Wir haben einen weiteren Traum wahr werden lassen 

😀😀